Im Kitecenter El Naaba, 30 km vom Flughafen Marsa Alam entfernt, sind nicht nur Flachwasser-Freaks gut aufgehoben. Auch echte Seeleute, die meterhohen Dünungswellen den Buckel runterrutschen wollen, finden hier ihr Dorado.
Als sich das schwarze Asphaltband dem Meer nähert, steigt Ibi aus dem Auto und macht ein Gesicht wie ein Imam beim Freitagsgebet. Am Ufer holt er ein zerknülltes Papier aus der Tasche und übergibt es dem tintenblauen Wasser. Ibi schaut dem Knäuel mit spirituell verklärtem Gesicht nach, bevor er wieder ins Auto steigt. Haben wir gerade ein muslimisches Ritual erlebt? „Gestern wurde mein Sohn beschnitten. Die Haut habe ich jetzt dem Meer übergeben.“ Das geheimnisvolle, das mystische Ägypten hat uns kurz unter seine Decke blicken lassen. Diese Szene geschah vor 15 Jahren, wir waren auf dem Weg nach Marsa Alam, dem neuen Tourismus-Dorado der Mubarak-Regierung. Unter Investoren herrschte eine Goldgräberstimmung wie im 19. Jahrhundert in Kalifornien. Wer eine Maurerkelle schwingen konnte, heuerte auf einer Hotelbaustelle an, und Wassersportpioniere wie der Board-Prophet Ibi Chouman oder der Kite-Kalif Harby Rashid trotztem dem Militär kitetechnisch verwertbare Uferstreifen ab. Ibi wollte ein Kamelkaff mit dem klingenden Namen El Naaba zum neuen Kite-Mekka machen. El-Gouna-Entdecker Harby luchste in jenen Jahren einem Ziegen-züchtenden Beduinen und einem Armee-General eine Bucht namens Hamata ab.
In den letzten 15 Jahren hat sich Hamata zum winterlichen El Gouna entwickelt. El Naaba zwei Stunden nördlich von Hamata aber döste weiter im Schatten der Kamelhöcker. Bis vor zweieinhalb Jahren Tommy Friedl, jedem Leinen-Jünger als Pionier des ägyptischen Boardsports bekannt, El Naaba wieder zum Leben erweckte und eine feine, kleine Kitestation in Spuckweite zum Wasser und Rufweite zum Hotel Three Corner Equinox aufbaute. Endlich hat der Winterwind-reiche Süden eine famose Alternative. El Naaba und Hamata, zwei Spots, die alles haben, was kälteflüchtige Kiter freuen müsste: Wind, Sand, Buchten, Lagunen und Hotels mit mitteleuropäischem Standard. Die Bucht von Hamata mitten in der Wüste wurde schon im letzten Jahrzehnt zum Sehnsuchtsziel aller Tiefwasserhasser. Wenn das Wasser zwischen knöcheltief und hüfthoch hin und herflaniert, fühlen sich viele Kiter so wohl wie Mountainbiker auf einem Forstweg. Hamata ist Hochseilartistik mit Netz.
Dabei bietet El Naaba ebenfalls alles, was Hamata berühmt machte. Und noch ein bisschen mehr – zum Beispiel freien Eintritt in die große Red-Sea-Arena. In der Bucht von El Naaba trennt ein langer Bootssteg die Badenden vom Board-Verkehr. Der Wind weht sideshore von Nordwest oder Norden. Die ersten Meter geleitet der sandige, steinfreie Untergrund den Kiter sanft ins Meer, bevor er dem Wasser am Bootssteg drei Höhenmeter Platz lässt.
Nach etwa 140 m entlässt die Bucht Kiter und Windsurfer ins tintenblaue Abenteuer. Draußen wird dann aus dem sandkratzenden Kiter Sindbad, der Seefahrer. Guckt er nach Norden, liegen 500 km vor ihm, blickt er nach Süden, hätte er 1500 km raumschots Raum, fährt er gerade aus, empfangen ihn nach 220 km die Saudis. Wenn der Wind einige Tage lang mit Furor aus dem Norden weht, laufen fette Dünungswellen an El Naaba vorbei. Kitelehrer Ahmed Mustafa Ibranim, 33, erzählt mit einem Glitzern in den Augen von diesen Geschenken aus dem Norden. „Wenn starker Passat ein paar Tage und Nächte durchbläst, dann siehst du draußen nur noch die Spitze der Windsurfmasten.“ Als besten Swellmonat hat Achmed den Mai in Erinnerung. Andere Quellen sehen die Winterwinde als Wave-Generatoren. „Die Wellen laufen relativ schnell, du brauchst schon ein flinkes Board, um dich draufzusetzen“, weiß Achmed. „Aber wenn du dich an die blauen Riesen gewöhnt hast, kannst du Spaß haben bis Bab al-Mandab.“ Das liegt an der Meerenge zum Golf von Aden und ist eineinhalb tausend km entfernt. Achmed blinzelt mit den Augen – wir sind im Land der begnadeten Geschichtenerzähler…
Wer Kiten also nicht nur am Baggersee oder in türkisen Lagunen betreiben will, könnte draußen im Swell seine kiterische „Äquatortaufe“ erleben. Aber jetzt keine Panik – du bist im Tintenteich, auch wenn er 3000 Meter tief ist, nicht allein: PS-starke Zodiacs führen ständig Hotelgäste spazieren (falls sie den Seegang aushalten) und wären sofort zur Stelle, wenn dir auf „hoher See“ eine Havarie droht. Selbstverständlich hat auch die Station ein Rettungsboot, das immer im Standby-Modus am Strand wartet. Verloren geht hier niemand. Natürlich muss niemand Neptun ständig am Wellenkammn kitzeln um als ganzer Kerl an der Hotelbar zu glänzen. Wer an der Pier, der Grenze zum Blauwasser, eine gepflegte Transition springt und zwischen Strand und Kartoffelriff cruist, wird vom Publikum ebenfalls als Hero anerkannt. Kartoffelriff? Genau vor der Pier breitet sich eine Riffplatte aus, auf der gerne mal entkräftete Windsurfer stranden. Die einzige Gefahr für Kiter bilden verirrte Schnorchler, die sich ins Fahrwasser verirren. Sie unterscheiden sich durch farbig markierte Schnorchel von Großfischen und dürfen ganzjährig nicht gejagt werden.
Ganz ohne Tücken ist die Bucht aber doch nicht: In Lee lauert ein altes Riff, das bei Abgetriebenen, Verwirrten und Verirrten bleibende Eindrücke hinterlassen könnte. Mit Schuhen könnte man die Platte sogar betreten – aber Schuhe tragen nur Hotel-Angestellte. Stimmt so nicht ganz. Zweieinhalb km südlich der Kitestation spielt El Naaba seine zweite Trumpfkarte gegen Hamata aus: die Einsteigerlagune. Sie ist stattliche 700 Meter lang und 200 Meter breit, stehtief und mag Kiteeinsteiger mit Schuhen. Unterhalb des Drag- und Drop-Reservats für Anfänger liegt der Luxuspool für Freestyler, Freerider, Foilkiter und Faulkiter. Das Wasser ist türkis wie das T-Shirt von Chassly (im Bild links), fast so warm wie arabischer Schwarztee und glatt wie Chasslys selbstgebackenes Brot. Der Tümpel ist 500 Meter breit und in der Nord-Süd-Achse 300 Meter lang – groß genug für eine Handvoll Genusskiter. Center-Chauffeur Chassly schaukelt die Gäste mit seinem Pickup zweieinhalb km zur Lagune. Für die Kitepausen stellt Mohammed ein Schatten-spendendes Zeltdach auf und gibt auch fachkundige Starthilfe. Wäre ein literaturkundiger Kiter unter den Flachwasser-Freaks, würde er Goethe zitieren: „Hier ist des Volkes wahrer Himmel. Zufrieden jauchzet groß und klein, hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein.“
Wer einen Sensor für zwischenmenschliche Empfindungen hat, der wird El Naaba auch wegen seiner herzlich-familiären Atmosphäre schätzen. Stationsmanagerin Sahra, der Chef der Kite-Crew, Achmed, seine cleveren Helfer Abdul, Achmed und Mohammed laden nette Gäste schon mal zum selbstgekochten Bohneneintopf ein und reichen Brot dazu, das sie im heißen Wüstensand gebacken haben. Diese Gastfreundschaft gilt sogar für die einheimischen Wasser-Bewohner. Eine mächtige Schildkröte wohnt irgendwo am Kartoffelriff und schaukelt ohne Scheu zwischen Kitern und Surfern herum. Möge sie Allah vor den Säbeln der Foilkiter schützen. Auch die Fische leben hier im himmlischen Frieden: Zur Zeit herrscht Fangverbot, den Tintenfischen, die Achmed mit der Schnur angelt, haben wir die gesetzlich verordnete Freiheit geschenkt. Freiheit ohne Grenzen gibt‘s auch für die Foilkiter: Die Schwebebalken mit den langen Messern tauchen inzwischen auch in El Naaba auf. Wen wundert‘s – Kite-Instructor Achmed fliegt schon Backrolls mit den Stiel-Boards. Er schwört Stein und Bein: „Es gibt kein besseres Foilkite-Revier in Ägypten.“ Center-Boss Tommy Friedel ist in El Naaba vermutlich auf eine Goldmine gestoßen. Vielleicht liegen am Strand von El Naaba mehr Nuggets als in der Sukari-Mine unweit von Marsa Alam. Dort werden immerhin 7,1 Millionen Unzen des Edelmetalls vermutet.
Gut zu wissen
Unterkunft: Das Kitecenter von Tommy Friedl liegt etwa 500 m vom Hotel Three Corner Equinox entfernt. Der Transfer zum Flughafen Marsa Alam dauert nur 30 Minuten (Hamata: 2 Stunden).
Windbedingungen: Langfristige Aufzeichnungen liegen nicht vor. Die Erfahrungen der Kitelehrer vor Ort sahen so aus: Durchschnittliche Windstärken im: Mai 20, Juni 18, Juli 21, August 15, September 17, Oktober 16, November 14, Dezember 15, Februar 12, März 18, April 15 Knoten. Im Oktober zählte man 5 windlose Tage, im November 4, im Dezember 9, im Januar 11, im Februar 18, im März 8 und im April 10. Diese Erhebungen sind Momentaufnahmen. Nach langfristigen Statistiken aus Hamata (ähnliche Windverhältnisse) sind der Januar, der Oktober, November und Dezember kritische Monate mit rund einem Drittel ohne Wind. Entgegen landläufiger Meinungen sind die Sommermonate sehr gut. Allerdings weht der Wind im Sommer meist nur bis 13 Uhr. Größere Schirme sind ratsam. Zehn bis zwanzig Kiter bevölkern im Schnitt das Kitecenter von Tommy Friedel – es geht hier sehr familiär zu (s. auch Windstatistik für Marsa Alam bei Windguru).
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