Kitesurfen trotz Querschnittslähmung ist möglich. Die Entwicklung steht noch ganz am Anfang, doch der Brasilianer Fernando Fernandes hat sich bereits hohe Ziele gesteckt.

Text: James Boulding, Arne Schuber / Fotos: Cabrinha, James Boulding

Fernando Fernandes kitet trotz Querschnittslähmung
Fernando Fernandes sitzt seit einem Autounfall im Rollstuhl. Kitesurfen hat er erst danach für sich entdeckt. Auf Maui hat er zusammen mit dem Team von Cabrinha seine Grenzen neu ausgelotet

Fernando Fernandes kann seine Bei­ne nicht mehr bewegen. Aber er kann kitesurfen! Der Brasilianer wurde vom Schicksal hart getroffen. Nach einem Unfall erhielt er die Diagnose, die sein Leben erschütterte: Querschnittslähmung. Doch Fernan­do ist eine Kämpfernatur. Nach nur drei Monaten nahm er an einem Rennen für Rollstuhlfahrer teil. Er begann mit Kajakfahren, wurde vier­facher Weltmeister und startete für Brasilien bei den Paralympics. Und schließlich entdeckte er seine Liebe fürs Kitesurfen. Im Sitzen zu kiten stellte ihn vor ganz besondere Herausforderungen. Zusammen mit seinem Coach und dem Team von Cabrinha verwirklichte er sich einen Traum: Kitesurfen auf Maui!

Querschnittslähmung nach einem Autounfall

Fernando führte ein Leben auf der Über­holspur. Für den Mittdreißiger war Sport schon seit der Jugend ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Fußball, Boxen, Fitness – er lebte ei­nen aktiven Lifestyle, studierte in Kalifornien, modelte für große Mode-­Labels und stand vor den Kameras von Star-Fotografen wie Mario Testino. Sogar als Schauspieler am Theater von Rio de Janeiro verdiente das Multitalent eine Zeitlang sein Geld. Bis sein Leben im Jahr 2009 ei­ne schicksalhafte Wendung nahm. Fernando war im Auto unterwegs, als ihm vor Müdigkeit am Steuer die Augen zufielen. Nach dem Unfall war nichts mehr so, wie es vorher war. Er kam zwar mit dem Leben davon, war aber fortan auf einen Rollstuhl angewiesen. Nicht nur körperlich musste er sich von dem Schock erholen, auch mental hatte er mit der Erkenntnis zu kämpfen, dass er sein Leben würde komplett umstellen müs­sen. Doch anstatt einzuknicken, kämpfte er sich zurück ins Leben.

Fernando lernte den Kite-Instruc­tor Gustavo Foerster kennen. Nachdem Fernando bereits Weltmeister im Kanu-­Sprint auf der 200-Meter-Dis­tanz war, suchte er eine neue He­rausforderung im Wassersport. Kiten faszinierte ihn sofort, doch die Einstiegshürde für Behinderte lag extrem hoch. Es fehlte nicht nur am passenden Ma­terial, auch Schulungsmethoden sowie die richtige Fahrtechnik mussten sich die beiden mühsam selbst erarbeiten. Doch koste es, was es wolle, Fernando wollte es unbedingt schaffen. „Die größte Herausforde­rung lag darin, die Prozesse, die beim Kiten ablaufen, erst mal genau zu verstehen und sie dann in meine Welt zu übersetzen. Ich brauche eine enorme Körperkon­trol­le, um die Balance zu halten und dabei den Kite zu fliegen, ohne dass ich zu sehr an der Bar ziehe. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, wo der Kite stehen muss, damit ich richtig fahren kann. Alle Kiter schauen ja in Richtung ihres Kites, ich jedoch sitze seitwärts und muss meinen Oberkörper verdrehen, um den Kite sehen zu können. Ich habe Gustavos Input, so gut es geht, aufgenommen und daraus meine eigene Technik entwickelt. Besonders schwierig für mich war, dass ich keinen Bodydrag machen konnte. Das war für Gustavo immer sehr wichtig, da er das natürlich auch mit seinen anderen Kite-Schülern trainiert, weil es eine elementare Technik für Kiter ist. Aber als er selbst einmal versuchte zu bodydraggen, ohne seine Beine zu benutzen, merkte er recht schnell, dass das unmöglich war. Deshalb haben wir anfangs vor allem in flachem Wasser trainiert, bis wir eine Methode gefunden hatten, die für mich und meinen Körper funktioniert“, schildert Fernando seine ersten Versuche.

Fernando Fernandes kitet trotz Querschnittslähmung
Kiten im Sitzen erfordert mehr Kraft und Ba­lance als beim ste­henden Kiten. Fernan­do treibt gerne Kraftsport und bringt insofern die nötige Physis mit.

Eiserner Wille und ungebrochene Motivation

Für Trainer Gustavo stand Fer­nandos Sicherheit an erster Stelle. Es gab zu dem Zeitpunkt kaum Erfahrungen und Know-how auf dem Gebiet Kitesurfen mit Behinderung, auf das die beiden hätten zurückgreifen können. „Fernando ist in Brasilien recht bekannt. Wenn ich ihn damit umgebracht hätte, wären ziemlich viele Leute sauer auf mich gewesen“, witzelt Gustavo im Nachhinein. Natürlich war er sich seiner Verantwortung bewusst. Er machte sich Gedanken über das richtige Equipment, suchte geeignete Spots und dachte über methodische Ansätze nach. Als Cabrinha 2017 das Fireball-System vorstellte, war Gustavo von dem Konzept sofort fasziniert. Denn Fernando benutzt seine Bauchmuskulatur, um den Kite und seine Körperposition unter Kontrolle zu halten. Die direkte Verbindung zum Kite und die gleichzeitige Bewegungsfreiheit zur Seite kommen seiner Kite-Technik sehr entgegen.

Dank seiner sportlichen Karriere hat sich Fernando eine enorme körper­li­che Physis antrainiert. Solche Mus­kel­pakete an Oberkörper und Armen sieht man sonst eher bei Rugby-­Pro­fis. Diese Fitness hat er nur durch sei­nen eisernen Willen und die ständige Motivation, immer das Maximum zu geben, erreicht. Während er als Ruderer für die Paralympics trai­nier­te, optimierte er ständig seine Trainingspläne, seine Ernährung und sowieso sein ganzes Leben drum herum. Sich ständig selbst heraus­zufordern – das ist für Fernando ein innerer Antrieb, der ihn schließlich um die ganze Welt führte.

Fernando Fernandes kitet auf Maui
Kiten auf Maui – damit hat sich Fernan­do einen Traum erfüllt. Daraufhin steckte er sich gleich noch viel höhere Ziele.

Neue Herausforderung: Kiten auf Maui

So gelangte er im April 2019 nach Maui, der Wiege des Kitesurfens. Weit entfernt von seiner brasilianischen Heimat wollte er dort ausprobieren, wie weit er seine Limits verschieben könnte. Er hatte sich zwei große Ziele gesteckt: Zunächst wollte er seine ­Fähigkeiten in schwieri­geren Kite-Bedingungen auf die Probe stellen. Denn auf Maui gibt es keine Flachwasserlagunen, so wie er sie vom heimischen Kite-Training kannte. In der Welle sieht die Welt komplett ­anders aus. Und zweitens suchte er Unterstützung, um seine technischen Voraussetzungen in Bezug auf sein Material zu verbessern. Die Jungs aus dem Cabrinha-Entwicklungsteam waren sofort be­geis­tert, als sie von Fernando und sei­nem Vorhaben erfuhren. Gemeinsam woll­ten sie herausfinden, wie man den Kite-Sport für Rollstuhlfahrer zugänglicher machen könnte.

Eines der Hauptprobleme liegt in herkömmlichen Board-Konstruktio­nen. Denn sobald man einen starr konstruierten Sitz auf das Board schraubt, kann es nicht mehr flexen wie bei einem stehenden Kiter. Außerdem ist die Gewichtsverteilung entlang der Board-Längsachse ein elementares Problem. Lars Moltrup, Board-Entwickler bei Cabrinha, hat sich des Problems angenommen und für Fernando ein eigenes Board ent­worfen. „Die Anforderungen an ein Board, das für sitzende Kiter funk­tioniert, sind gänzlich andere als bei einem herkömmlichen. Der Körperschwerpunkt liegt deutlich tiefer und die Kanten werden anders belastet. Wir haben zunächst unser Leichtwind-Board Stylus in der Serienversion als Basis benutzt und ein paar Modifikationen am Shape vorgenommen. Dann haben wir die Aufnahmevorrichtung für Fernandos Stuhl entwickelt und die Montagepunkte verstärkt. Die Größe des Boards, das Laminat, den Aufbau des Kerns und schließlich sogar die Position der Finnen – alles mussten wir nach und nach anpassen, um das Board für einen sitzenden Kiter zu optimieren“, erklärt Lars. Fernando belastet das Board stärker als die meisten anderen Kiter. Nicht nur weil er beim Kiten gerne ans Limit geht und sogar Kite-Loops zieht, sondern weil die Krafteinwirkung aufs Board höher ausfällt als bei stehenden Kitern. Fernando kann keine Knie als natürliche Stoßdämpfer benutzen, also muss das Board die gesamte Kraft abfedern. Rocker-Linie und Flex des Boards müssen also darauf ausgelegt sein, maximal dämpfend zu wirken. Den richtigen Flex zu treffen war besonders schwierig, denn das Board sollte maximal stabil konstruiert sein, aber gleichzeitig noch flexibel genug. Zudem standen Pop und möglichst weiche Landungen auf Fernandos Wunschliste.

Fernando Fernandes entwickelt mit dem Cabrinha-Team ein Kitesystem für Querschnittsgelähmte
Pete Cabrinha (links) und sein Team tüfteln im Entwicklungsbüro auf Maui an einem speziellen Board für Fernan­do, das den ho­hen Belastungen standhält und trotzdem noch flext.

Kraft und Balance

Trotz seiner herausragenden kör­per­li­chen Fitness muss Fernando nach circa 15 Minuten auf dem Wasser eine Pause einlegen. Seine Arme wer­den beim Sitzend-Kiten stark be­ansprucht. Außerdem arbeitet der gan­ze Rumpf permanent. Davon konn­te sich Brodie Sutherland, ebenfalls Designer und Board-Entwickler, selbst ein Bild machen: „Der Großteil meiner Arbeit basiert auf meinen ei­genen Erfahrungen sowie dem Feedback anderer Fahrer zu den Produkten. Bei diesem Projekt musste ich mich komplett auf Fernandos Input verlassen. Er hat mir sein Board geliehen, damit ich es selbst einmal aus­pro­bieren konnte. Unfassbar, wie schwierig das ist, obwohl ich sogar noch mit meinen Beinen etwas mehr Balance haben müsste als er. Bei ihm sieht das so einfach aus. Aber man braucht so viel Kraft. Selbst wenn man nur ein paar Schläge fährt, ist man richtig platt hinterher“, erinnert sich Brodie.

Und Fernando kitet nicht bloß hin und her, ständig packt er irgendwel­che Tricks aus und ist die ganze Zeit voll in Action. Ihm beim Kiten zuzusehen ist eine wahre Freude. Er nutzt jede Kicker-Welle auf dem Weg hinaus aufs Riff für Sprünge und reitet die Wellen auf dem Rückweg ab. „Auf Maui zu kiten ist wohl der Traum jedes Kiters. Die Bedingungen sind wirklich extrem und ich wollte mir unbedingt beweisen, dass ich das kann. Das Gefühl, am gleichen Punkt wieder zu landen, wo ich gestartet bin, Höhe laufen zu können und dann auch noch zu springen und Wellen abzureiten – das war sensationell für mich! Die Jungs haben mich sogar mit zu einem ihrer Secret Spots genommen und ich konnte diese unbändige Energie von Hawaii fühlen. Natürlich muss ich noch viel auf dem Wasser lernen. Freestyle ist bisher meine Lieblingsdisziplin, aber auch die Wellen haben mir sehr gut gefallen. Mein Ziel ist es, einer der besten Kiter der Welt zu werden. Nicht nur weil ich im Rollstuhl sitze, sondern weil ich die Fähigkeiten im Wasser sowie außerhalb des Wassers besitze, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin. Ich will Handle-Passes lernen, genau wie Megaloops und Rotationen. Ich habe eine lange Trickliste und dafür trainiere ich wie ein Wahnsinniger“, so Fernando nach einer der gemeinsamen Ses­sions mit dem Cabrinha Team und Firmengründer Pete Cabrinha.

Fernando Fernandes kitet mit Pete Cabrinha
Mit Fernando gemeinsam zu kiten sei eine besondere Erfahrung, erzählt Pete.

Pete zeigt sich ebenso beeindruckt von dem besonderen Kiter: „Grenzen zu verschieben ist das, was unser Cabrinha-Design-Team permanent antreibt. Als wir Fernando zum ersten Mal getroffen haben, spürten wir sofort sein enormes Potenzial. Er hat wirklich das Zeug dazu, die bisher für möglich gehaltenen Limits zu sprengen. Seine Motivation und seine Energie befinden sich in einer guten Balance mit seiner warmen und offenen Art, mit Menschen umzugehen. Irgendwie zieht er jeden um sich herum in seinen Bann und reißt alle mit. Die Sessions mit ihm waren besonders. Für das ganze Team war das eine sehr spannende, aber genauso spaßige Erfahrung.“

Grenzen verschieben

Kitesurfen hat sich bisher rasend schnell entwickelt. Vor allem die sicherheitsrelevanten Teile wie Quick Releases haben dazu beigetragen, dass viele neue Kiter aller Altersklassen mit dem Sport beginnen konnten. Neuentwicklungen wie Hydro­foils oder jüngst die Surfwings er­öff­nen ganz neue Möglichkeiten, an die vorher wohl kaum jemand ge­glaubt hätte, und die Grenzen zwi­schen den einzelnen Disziplinen ver­schwim­men immer weiter. Fernando bildet nun die Speerspitze einer neuen Generation von Kitern, die sich von ihrer Behinderung nicht einschränken lassen wollen. Nachdem man etwas Zeit mit ihm verbracht hat, kann man sich gut vorstellen, dass er andere Kiter inspirieren wird, die es ihm gleichtun wollen. Seine Pionierarbeit ebnet den Weg für viele weitere Sportler, die sich sitzend das Element Wasser mit dem Kite erschließen können. Alle Vorur­tei­le und Bedenken über das, was tech­nisch und körperlich in diesem Bereich möglich wäre, hat Fernando während nur ein paar Ses­sions weg­­ge­fegt. Wer kann heute sagen, wohin sich der Sport vielleicht schon in ein paar Jahren entwickeln wird? Mit dem richtigen Material und dem Antrieb, wie ihn Fernando mitbringt, sind die Möglichkeiten offen­bar grenzenlos.

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