Die Flachwasserlagune auf Djerba wird mit neuem Leben gefüllt: Im Frühjahr 2019 eröffnete Kiteworldwide eine neue Station an der XXL-Badewanne. KITE war zum Spot-Check vor Ort. Text & Fotos: Hans-Martin Kudlinski
Es gibt diese Kite-Spots, die eine Zeit lang in aller Munde sind und dann plötzlich unverschuldet in der Versenkung verschwinden, sind es doch politische Krisen, Terrorangst oder andere Fälle höherer Gewalt, die eine ehemals erfolgreiche Kite-Destination vom Touristenstrom abschneiden. Isla Coche oder El Yaque in Venezuela, Ägypten oder jüngst Sri Lanka sind tragische Beispiele dafür. So auch Djerba. Erst der Arabische Frühling, dann Anschläge, die 2015 das Reisegeschäft in Tunesien fast komplett zum Erliegen brachten. Während sich Ägypten verhältnismäßig schnell zurück in den Fokus deutscher Kite-Touristen arbeiten konnte, war Djerba lange touristisches Brachland – obwohl die Insel für Kiter einiges zu bieten hat. Das weiß man auch beim Reiseveranstalter Kiteworldwide. Im Frühjahr 2019 eröffneten die Hamburger dort ihr eigenes Resort inklusive Kitestation, seitdem zieht es die ersten Kiter wieder auf die Insel. Im Juni 2019 war KITE bei einer der ersten Reisegruppen nach Djerba mit dabei. Anlass: Kiteworldwide veranstaltete gemeinsam mit Youtuber und Shop-Betreiber Kite Buddy das erste Event an der neuen Station.
Nachdem ich mein Handgepäck verstaut und meine Beine zwischen dem unterdimensionierten Economy-Sitz und der Rückenlehne meines Vordermanns verkeilt habe, erschallt eine Durchsage über die Lautsprecher: „Ich begrüße Sie auf dem Flug von Frankfurt nach Djerba, mein Name ist Kevin Knülle und ich bin heute Ihr Pilot!“ Ich drücke die Daumen, dass es sich bei diesem Nachnamen schlicht um einen pubertären Scherz des peinlich berührt kichernden Schicksals handelt, und lehne mich zurück. Über meine Ohrhörer lausche ich einem Podcast, der den Arabischen Frühling thematisiert – die bürgerliche Revolution, die im Januar 2011 dazu führte, dass der damalige tunesische Präsident Ben Ali das Land fluchtartig verließ. Die junge Generation ging damals auf die Straße und kämpfte für einen Neuanfang, der Tunesien von einer Diktatur hin zu einer freiheitlichen Demokratie verändern sollte. Das Land war Vorreiter für eine ganze Reihe politischer Umwälzungen im arabischen Raum. Was davon heute noch übrig ist – das sollen andere beurteilen. Ich beschließe stattdessen, mich darüber zu freuen, Djerba als Kiter zu bereisen, und bin gespannt, was mich in der nächsten Woche erwartet.
Reisetipp vom Profi: Immer eine Boardshort ins Handgepäck
Nach der Ankunft ein paar Stunden später bemerke ich, dass offenbar nicht nur der Pilot, sondern auch das Bodenpersonal „knülle“ ist. Während ich wohlbehalten und unter tosendem Beifall für Kevins fliegerische Leistung auf Djerba aufsetze, wird der Verbleib meines Gepäcks zum Fall für die X-Akten. Egal, immerhin bin ich auf dem Weg zum Kite Buddy Event, bei dem Hersteller wie Core, Duotone, Flysurfer und Eleveight jede Menge Testmaterial dabeihaben. Und an der neuen Kiteworldwide-Station nebst Schule wird sich bestimmt ein passendes Trapez für meine schlanken Hüften finden lassen. Immerhin war ich vor der Abreise schlau genug, zumindest eine Boardshorts im Handgepäck zu verstauen. Ich hinterlasse meine Kontaktdaten am Gepäckschalter und hoffe auf das Beste.
Als ich die Ankunftshalle betrete, empfängt mich trotz Verspätung mein Fahrer Raouf mit einem herzlichen Lächeln. Zu meinem Erstaunen legt er auf Deutsch los: Er habe sich schon Sorgen gemacht, wo ich bleibe, und ich berichte von meinem Gepäckdilemma. Während des 40-minütigen Transfers kommen wir auf der gut ausgebauten Hauptstraße zügig vorwärts. Mir fallen die vielen Polizeiposten entlang der Strecke auf. Offenbar noch Nachwehen der letzten Terroranschläge oder der politischen Unruhen. Für deutsches Sicherheitsempfinden fühlt sich das im ersten Moment merkwürdig an, doch setzen viele Länder in der Region auf starke Polizeipräsenz, um Sicherheit zu vermitteln. Wer in letzter Zeit mal in Ägypten war, weiß, wovon ich rede.
Als ich im Kite-Boutique-Hotel ankomme, erwarten mich bereits Anne und Cornelius vom KWW-Team sowie Inhaber Tarek. Ich bekomme eine Führung über die liebevoll gestaltete Anlage mit ihren Gästehäusern und Apartments. „Vor ein paar Monaten sah das alles hier noch ein bisschen anders aus. Das ganze Hotel wurde noch einmal auf links gedreht, modernisiert, gestrichen und eine Solaranlage installiert.“ Pool, Chill-out-Lounge, Dachterrassen, Yoga-Raum, klimatisierte Apartments mit Küche und, und, und… hier lässt es sich in der Tat aushalten.
Bevor alle Teilnehmer in der Anlage eintrudeln, werde ich noch kurz zum nächsten Shoppingcenter geshuttlet. Im großen Supermarkt kann ich meinen ungeplanten Hygieneartikel- und Schlüpfernotstand beheben. Kurz darauf treffe ich beim gemeinschaftlichen Abendessen auf den bunt gemischten Rest der Truppe. Während sich einzelne Stimmen noch mit dem Für und Wider der ungewohnt bodennahen Sitzposition befassen, falten die meisten Mitreisenden ihre unteren Extremitäten bereits zum Schneidersitz. Jeden Tag serviert das Team um Tarek drei Gänge einheimischer und durchweg leckerer Gerichte. Schnell wird der Satz „Kannst du mir mal bitte die Harissa reichen?“ zum Standardtext eines jeden Tischgesprächs. Die höllisch scharfe Gewürzpaste darf bei keiner Mahlzeit fehlen.
Scharfe Gepflogenheiten
Während der obligatorischen Kennenlernrunde bin ich zunächst verwirrt. Der Namensgeber des Events Dorian aka Kite Buddy wird augenscheinlich von seinem Body- und Frisuren-Double Steffen begleitet. Doch nach einer kurzen Eingewöhnungsphase gelingt es mir, die beiden auseinanderzuhalten. Man merkt Dorian schnell an, dass er zu 100 Prozent hinter dem steht, was er tut – egal ob es seinen Werdegang als Shop-Betreiber oder als Youtuber betrifft. Sein Know-how teilt er im Rahmen von Video-Workshops in den kommenden Tagen in Theorie und Praxis mit den Gästen. Dass seine Leidenschaft fürs Kiten ansteckend ist, spürt man, wenn man die Event-Teilnehmer nach ihren Beweggründen für ihre Anmeldung fragt. Theo zum Beispiel: Der 19-jährige Sportwissenschaftsstudent aus Marburg wurde als treuer Subscriber auf das Event aufmerksam. Seine anfängliche Skepsis als Alleinreisender löste sich schon am Flughafen in Frankfurt in Wohlgefallen auf, als er am Gate mit den ersten Gleichgesinnten ins Gespräch kam. Und dieser gemeinsame Nenner scheint auch den Rest der Teilnehmer auf das nordafrikanische Eiland verschlagen zu haben. Denn die Spannweite reicht vom Leiter einer Brandschutzdienststelle über einen Dessauer Werkstattmeister und einen Handstand- und Yogalehrer bis hin zum Head of Marketing im automobilen Luxusbereich.
Luxus für Langschläfer
Am nächsten Morgen startet der Kite-Tag entspannt. Das Revier auf Djerba lebt von der Thermik. Und die baut sich in der Regel erst zwischen 12 und 13 Uhr so richtig auf – genug Zeit also, um sich in aller Ruhe beim Frühstück für den Tag zu stärken. Die neue Kiteworldwide-Station wurde im April 2019 offiziell eingeweiht, also dürfen wir uns zu den ersten Gästen zählen, die sich hier die Sonne auf den Pelz scheinen lassen. Je nach Windvorhersage starten die Shuttles zum Spot um zehn oder elf Uhr. Nach knapp 20-minütiger Fahrt steigen wir aus dem Bus und werden vom Sonnenschein, einer leichten Brise und rhythmischem Elektro-Sound begrüßt, der durch die überdimensionale Box mit der Aufschrift „DJ X-Boss“ vor sich hin wabert. Ein Hauch von „Café del Mar“ weht über den Strand – nur deutlich cooler. Sven, der Stationsleiter, wacht über die Playlist. Er kann das sagenumwobene „Berghain“ in Berlin zu seinen früheren Arbeitgebern zählen. Wer dort mit dem zutätowierten Sven Marquardt die Tür geregelt hat, entwickelt offenbar einen guten Musikgeschmack.
Während Michi, der leichtgewichtige, blonde Jüngling von Flysurfer, mit einer seiner Matten bereits einsame Schläge im Windkeller zieht, nehme ich die Station unter die Lupe. Als Basis dienen zwei massive Container, einer als Office, der andere beherbergt neben abschließbaren Spinden das Verleihmaterial. Feste, komfortable Toiletten anstatt Dixis und eine Duschmöglichkeit findet man hinter dem Office-Container. Zur Strandseite hin gibt es eine große Liegewiese aus Beach-Beds, die bei entsprechenden Windverhältnissen von einem Schatten spendenden Zelt überdacht werden. Es gibt sicher größere und luxuriösere Kite-Stationen, doch hier findet man alles, was man für einen gelungenen Kite-Tag braucht.
Sogar deutsche Kite-Prominenz ist angereist: Linus Erdmann, mehrfacher deutscher Meister im Freestyle, vertritt seinen Sponsor Core. Der 22-Jährige erzählt mir, dass er nicht nur zu Promo-Zwecken nach Djerba kommt, sondern selbst beim Aufbau der Station tatkräftig mit angepackt hat. Als er von Kiteworldwide gefragt wurde, ob er mit von der Partie wäre, habe er nicht lange überlegt. „Da ich mir gut vorstellen kann, eines Tages meine eigene Kitestation zu betreiben, war es für mich eine wahnsinnig interessante Erfahrung, unter den nicht immer einfachen Rahmenbedingungen hier die notwendige Infrastruktur mit aus dem Boden zu stampfen.“
Große Freiheit und Grünzeug
Als der Wind auffrischt und sich auch hünenhafte Gestalten wie Felix von Duotone langsam mit großen Kites – 12er und 14er gehören hier zum Standardrepertoire – aufs Wasser wagen, schließe ich mich an. Philipp von Eleveight drückt mir einen 14er-RS in die Hand und ich mische mich unauffällig unter den Rest der Gruppe.
Die große Flachwasserlagune wird ihrer Bezeichnung absolut gerecht. Platz ist auf dem Wasser im Überfluss vorhanden. Die benachbarte Kiteschule befindet sich einen guten halben Kilometer in Luv. In Lee sollte man nur den Abstand zu den kleinen Fischerbooten im Auge behalten, die etwa 50 Meter vom Ufer entfernt ankern. Besonders Einsteiger und tiefenscheue Kiter kommen in der Lagune auf ihre Kosten. Der stehtiefe Bereich ist gigantisch. Über die komplette Breite des Strands kann man auch ein paar Hundert Meter vom Ufer entfernt noch stehen. Ebenfalls positiv: Der Untergrund ist überwiegend weich und schlammig. Nur beim Anlanden sollte man die scharfkantigen Steine an der Wasserkante meiden. Aus diesem Grunde wurde direkt vor der Station ein Korridor mit Sandsäcken ausgelegt, der den Ein- und Ausstieg markiert.
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Klingt so weit nach einem traumhaften Flachwasser-Spot, doch wo ist der Haken? Nachdem einer der Teilnehmer gecrasht ist, entdecke ich ihn, wie er sich sattgrün um die Leinen schlingt: das Seegras unterhalb der Wasseroberfläche. Wer den Kite hinunterhämmert und beim Relaunch trödelt, sodass die Leinen zu lange im Wasser treiben, wird ungewollt zum liquiden Rasenmäher. Das Grünzeug schlingt sich um die Leinen und muss anschließend manuell wieder abgepflückt werden.
Je nach Windrichtung und Tide kann man in wenigen Schlägen zur Burg oder zur gegenüberliegenden Landzunge kiten. Mein erster Versuch endet zunächst in endloser Kurbelei, denn bei Niedrigwasser entstehen zwischen den Grasinseln kleine Pools. Ich möchte nicht riskieren, mit Vollgas bei minimalem Wasserstand den wenig eleganten Abgang mit dem Gesicht in Richtung Seegrasbüschel oder Sandbank zu machen, also breche ich nach zwei Dritteln des Weges ab. Das Positive am Seegras: Es wirkt wie ein natürlicher Wellendämpfer. Selbst bei starkem Wind bleibt das Wasser erstaunlich glatt. Als der Wind zwei Tage später auf gute 20 Knoten anzieht und mehr sideshore kommt, hält sich die Kabbelbildung in überschaubaren Grenzen und ich bin in null Komma nichts auf der anderen Seite der Bucht.
Kite-Catering am Strand
Positive Randbemerkung: Vom Hotelpersonal über die Shuttlefahrer bis hin zu den Beach Boys und Kitelehrern arbeitet Kiteworldwide mit den Locals Hand in Hand. Die köstliche Verpflegung am Spot übernimmt die Schwester von Kitelehrer Soufiene. Sie kocht auf Bestellung täglich djerbische Köstlichkeiten, die mitsamt Geschirr und Besteck direkt an den Strand gebracht werden. Als weit gereister Connaisseur scharfer Saucen bescheinige ich ihrer hausgemachten Harissa absolute Höchstnoten in Sachen Geschmack und Selbstentzündungspotenzial!
Eine Einschränkung im „Kiter-Lifestyle“ muss man in Kauf nehmen: Das Feierabendbier am Strand direkt nach der Session fällt aus, denn der Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit ist auf Djerba verboten. Jedoch schmeckt der Gerstensaft eine gute halbe Stunde später auf der Dachterrasse im Kiteworldwide Village ebenso vorzüglich. Vom Privatgelände aus lässt sich das Kaltgetränk der Wahl dann gesetzeskonform und mit einem erstklassigen Blick über die Dächer Midouns genießen.
Nach einer Woche bleibt festzustellen: Djerba hatte schon damals einen berechtigten Platz auf der Liste der populären Kite-Destinationen und wird ihn – dank der Bemühungen des KWW-Teams – wohl auch wiedererlangen. Besonders Anfänger und Aufsteiger kommen in der geräumigen Lagune voll auf ihre Kosten. Hotel und Station sind gut geführt, die Locals unwahrscheinlich freundlich und die kulturelle Erfahrung ist eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu den ähnlich weit entfernten Reisezielen im europäischen Umkreis. Wer also auf der Suche nach flachem Wasser, moderatem Wind, einem (bisher noch) nicht überlaufenen Spot und einer sehr komfortablen Unterkunft ist und die täglichen kurzen Transfers vom Hotel zum Spot nicht scheut, sollte sich Djerba auf die Bucket List schreiben. Nur das mit dem Reisegepäck könnte man noch optimieren. Aber das muss ich wohl mit der Airline klären. Meine Tasche tauchte übrigens zum Glück doch noch auf – knapp 24 Stunden vor meinem Rückflug…
Gut zu wissen
Anreise:
Flugzeit ab Deutschland (Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, München, Berlin etc.) beträgt zweieinhalb bis drei Stunden. Zielflughafen: Djerba-Zarzis International Airport im Nordwesten der Insel nahe der Hauptstadt Houmt Souk. Transferzeit zum Kiteworldwide-Village in Midoun: knapp 40 Minuten.
Beste Wind- und Reisezeit:
Die Saison startet im März und zieht sich bis Anfang November. Von April bis Oktober soll die Thermik regelmäßig vier bis fünf Windstärken liefern (Windangaben basieren auf Veranstalter-Infos, zu Djerba haben wir keine unabhängige Windstatistik gefunden). Große Leichtwind-Kites gehören unbedingt ins Reisegepäck. Anfang Juni ist es mit circa 30 Grad bereits angenehm warm, im Sommer reichen den meisten Boardshorts und Lycra auf dem Wasser.
(s.a. Windstatistik für Djerba bei Windguru).
Währung:
Landeswährung: Tunesischer Dinar (TND). Die Ein- und Ausfuhr der Währung sind verboten. Das sollte man vor allem vor dem Rückflug im Hinterkopf behalten. Am besten wird die Reisekasse direkt am Flughafen oder auf der Fahrt zum Hotel an einem der öffentlichen Geldautomaten aufgestockt.
Internet:
Kostenloses WLAN im Kiteworldwide Village und am Spot. Wer komplett unabhängig surfen möchte, bekommt für circa acht Euro eine lokale SIM-Karte mit 25 Gigabyte Datenvolumen am Flughafen oder im Shoppingcenter.
Anschauen:
Im Rahmen des Projekts Djerbahood verzierten 2014 insgesamt 150 Street-Art-Künstler aus 30 Nationen die engen Gassen Erriadhs mit ihren Kunstwerken, die man unbedingt gesehen haben sollte. Ein weiteres Muss für kulturell Interessierte ist die El-Ghriba-Synagoge, das älteste jüdische Gebetshaus in ganz Nordafrika. Wer sich lieber körperlich betätigen will, kann an den Off-Days unter anderem stand-up-paddeln, Ausritte unternehmen oder die Insel auf Quads erkunden.
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