Kiter in der Toskana

Die Toskana hat viel mehr zu bieten als Kunst, Kultur und guten Wein. Gut belüftete Strände locken wind­hungrige ­Kiter an wie das Oktoberfest durstige Italiener. Von Genuss-­Kiten bis zu meterhohen Wellen wird dort alles geboten. Heiko Mandl hat für KITE die Region bereist und wurde mit einer Extraportion „dolce vento“ verwöhnt.

Text & Fotos: Heiko Mandl

Nicht die Ausfahrt Rovereto zu nehmen, sondern mit durchgedrück­tem Gaspedal weiter Richtung Süden zu fahren – das ist neu für uns. Der Weg von Österreich über den Brenner be­deutet für gewöhnlich Vento und Ora am Lago, in Torbole bei Caffè und Gelati abhängen und die eine oder andere Mountainbike-Tour zu starten. Dieses Mal ist es anders. Die Fahrt in den langen Autokolonnen über Brenner und Co. kennen wir mittlerweile im Schlaf. Ab dieser ominösen Ausfahrt in Rovereto aber betreten wir kiterisches Neuland – ein weißer Fleck, zumindest auf unserer Reisekarte. Nun sind wir zwar nicht Robinson Crusoe, denn die Region an der italienischen Westküste ist längst erschlossen und bei vielen Kitern im Sommer ein beliebtes Ziel, doch fühlt es sich immer spannend an, eine Region zu erkunden, in der von unserer Kite-Crew zuvor noch niemand war.

Toskana, das Herz des Stiefels, die Seele der Italiener, Florenz und Sie­na! Unter Kunstliebhabern ist die Region wohlbekannt. Auch Weinliebhaber haben hier schon des Öfteren mit der einen oder anderen Flasche Chianti gesündigt. Doch für uns sind die Kite-Spots Neuland und das Ziel unserer kleinen Expedi­tion. Wir haben natürlich im Vorfeld recherchiert, wo die besten Reviere zu finden sind und was uns dort erwartet. So viel wissen wir: Im Sommer soll an vielen Spots eine thermische Brise die Schirme in der Luft halten. Im Frühjahr, Herbst und Winter sorgen dann heftige Stürme für Hard­core-Waveriding mit fettem Wind.

Kitespot südlich von Vada
Feiner Sand am langen Strand – Der Spot von Rosignano Inkite liegt südlich von Vada, hier hat man meist viel Platz auf dem Wasser

Schneeweißer Sand mit Beigeschmack: Vada

Beim Blick auf die Karte fallen uns einige interessante Spots direkt ins Auge. Eines der extravagantesten und gleichzeitig unangenehmsten Kite-Reviere ist sicherlich Vada, das südlich von Livorno gelegen ist. Der Strand beeindruckt auf den ersten Blick mit schneeweißem Sand und türkisblauem Wasser. Wer sich dort umdreht, erkennt allerdings den Grund für das „Naturschauspiel“: Eine Solvay-Fabrik hat jahrzehntelang Quecksilber, Arsen und andere giftige Abfälle ins Meer gepumpt und so den Strand wortwörtlich er­bleichen lassen. Über die Gefahren dieser Stoffe braucht man wohl nicht viel zu sagen. Die Behörden beteuern aber, der Strand und die Wasserqualität seien heute unbedenklich. Trotzdem: Als wir am Strand stehen, will das mulmige Gefühl nicht so recht weichen. Viele Badegäste und auch Kiter scheinen da anderer Meinung zu sein. Es wird vergnüglich geplanscht und gesurft. Doch uns wird die Entscheidung von der Natur abgenommen: Noch bevor wir unsere Kites starten, gönnt sich der Wind urplötzlich eine Auszeit. Vielleicht war’s Schicksal, egal – wir beschließen, weiter Richtung Süden zu fahren.

Kiter am Strand von Grosetto ind er Toskana
In der Vor- und Nachsaison machen die Sonnenschirme Platz für die Kite-Schirme

Thermik-Cruisen in Grosseto

Wir rollen auf der Straße in Richtung Grosseto, um die Spots in der Umgebung zu erkunden. Grosseto liegt etwas im Landesinneren. Entlang der Küste entdecken wir lange und breite Sandstrände, die noch naturbelassener und schöner sind als im Norden bei Livorno. Im Sommer muss hier die Hölle los sein. Gegen Ende der Saison weichen jedoch die Sonnenschirme nach und nach und machen Platz für die Kite-­Schirme. Zwischen Castiglione della Pescaia und Marina di Grosseto haben sich mehrere Kiteschulen an­ge­siedelt und weisen Start- und Landezonen aus. Während die Reviere im Norden bei entsprechender Wetterlage mit fetten Wellen gespeist werden, finden im Süden Freerider und ­Genuss-Kiter die idealen Spots. So auch in Grosseto. Dort ist für sämtliche Könnensstufen etwas geboten. Der Beachbreak kann eine nette Höhe erreichen, bei Südwind geht es zur Sache. Wir erleben den Spot bei schöner Thermik bis vier Beaufort und cruisen vor den langen Stränden umher. Am Abend geht es nach Castiglione, ein beschauliches Städtchen mit italienischem Flair und einer Burg, die über der Stadt thront.

Kiter am Strand von Talamone in der Toskana

Pole Position am Strand: Talamone

Weil es noch immer nicht nach einer Westwind-Front aussieht, steuern wir zum Abschluss Talamone an. An heißen Tagen entsteht dort eine stabile Thermik, die ausreichend Wind für große Kites vom Meer ins Landesinnere fächelt. Der Ort liegt am Ende einer kleinen Landzunge. In der sichelförmigen, langen Bucht, die nach Südosten geöffnet ist, wird gekitet. Leicht ablandiger Wind aus westlichen Richtungen und spiegel­glattes Wasser – das hatten wir zumindest vorher gelesen. Als wir am Strand ankommen, zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild: Der Wind weht mit knapp sechs Windstärken aus Süd und drückt eine hüfthohe Welle in die Bucht. Das hat durchaus Potenzial! Wir starten direkt vor unserem Bus die Kites und spielen mit dem Beachbreak. Die Bucht bietet genug Platz für Kite- und Windsurfer, an schönen, windigen Sommertagen kann es allerdings voll werden. Dafür kann man hier in unmittelbarer Strandnähe parken. Während wir in Marina di Grosseto unseren Stuff zum Teil mehrere Hundert Meter an den Strand schleppen mussten, kann man in Talamone fast aus dem Kofferraum heraus starten.

Nach zwei schönen Kite-Tagen in Ta­lamone ist es leider schon wieder Zeit für den Heimweg. Dabei gibt es noch so viele andere Spots in der Toskana zu entdecken, so viel köst­li­ches italienisches Essen zu probieren und den einen oder anderen voll­mundigen Rotwein zu entkorken. Dolce vita e dolce vento – für Kiter eine hervorragende Kombination. Wir sind uns sicher: Beim nächsten Italien-Ausflug wird die Ausfahrt Rovereto wieder links liegen gelassen. Das süße Leben im Herzen Italiens hat ­Suchtpotenzial.

Landschaft in der Toskana

Gut zu wissen

Spots und Wind:
Es gibt in der Toskana an die 20 Kite-­Spots, die je nach Windrichtung und Jahreszeit unterschiedlich funktionieren. Im Sommer sind die Thermik-Spots gefragt, im Frühjahr und Herbst ziehen Stürme hauptsächlich aus Westen über die Küste. Dann sind die Wellen-Spots im Norden der erste Anlaufpunkt. Dazu kommt der Schirokko, der vom Süden aus warme Luft und fette Wellen vor sich herschiebt. Wer eine gute Welle sucht, ist in Vada und Tre Ponti im Süden von Livorno richtig. Im Süden befinden sich gute Thermik-Spots, Marina di Grosseto oder Talamone sind beliebte Anlaufpunkte. Bei Südwind ist Feniglia bei Monte Argentario das beste Revier mit guter Welle.

Beste Reisezeit:
In den Sommermonaten gibt es in der Toskana zwar häufig gute Thermik, nur sind die Strände leider über­füllt und zum Teil ist Kiten dann verboten. Wenn die Badegäste im Herbst das Feld räumen, schlägt die Stunde der Wave-Kiter. Italien hat ei­ne erstaunlich vitale Wave-Szene. Ab September beginnen die ersten Tage mit stärkerem Wind aus westlichen Richtungen, die Temperaturen sind dann noch angenehm und die Sonne hat Kraft genug für mediterranes Feeling. Bis Ende Oktober kann man hervorragende Kite-Bedin­gungen auskos­ten. Im Winter sind die Tage mit Süd­wind zu empfehlen. Der warme Schirokko aus Nordafrika hat milde Luft und dazu noch Wellen im Gepäck. Ab Ende März klettert das Thermometer wieder dauerhaft in den Wohlfühl­bereich, einzig das Wasser ist dann noch frisch. Ab Mai können die Temperaturen über 25 Grad erreichen.

Anreise:
Wer mit dem Auto in die Toskana fährt, muss über den Brenner, außer man reist vom äußersten Westen Deutschlands an. Dann führt die Route durch die Schweiz über Mai­land direkt ins Herz Italiens. Von München aus fährt man in knapp acht Stunden nach Grosseto (München – Innsbruck – Brenner – Bozen – Verona – Bologna – Florenz – Gros­se­to: 780 Kilometer), von Stuttgart sind es zehn Stunden (Stuttgart – Zürich – Mailand – La Spezia – Livorno – Grosseto: 950 Kilometer). Achtung: Sowohl in Österreich als auch in der Schweiz und Italien fallen zünftige Mautgebühren auf den Autobahnen an.

Anreise mit dem Flugzeug:
Die nächsten Flughäfen liegen in Pi­sa, Siena und Florenz. Von dort geht es am einfachsten mit dem Miet­auto zu den Spots.

Windvorhersage:
Am verlässlichsten sind die lokalen Anbieter. www.meteosurf.it liefert brauchbare Infos, allerdings ist die Website auf dem technischen Stand des letzten Jahrtausends. Windguru, Windfinder oder Windy tun es sonst auch.

Essen und Wohnen:
Die Toskana ist einer der Touristen-­Hot-Spots in Italien, es ist also nicht schwer, eine Unterkunft oder eine gemütliche Trattoria zu finden. Für den Hochsommer sollte man rechtzeitig buchen, in der Nebensaison ist meist immer ein Appartement in Strandnähe frei.

Sightseeing:
An windlosen Tagen bietet sich ein Trip nach Pisa an. Auch Florenz ist nicht weit entfernt. Eigentlich ist aber jedes Städtchen in der Toskana einen Besuch wert. Weinliebhaber fühlen sich hier im siebten Himmel.

Material:
Hier einen allgemeinen Tipp abzugeben fällt schwer, am besten packt man alles ein, was man hat. Je nach Windrichtung ­benötigt man unterschiedliche Größen und Boards. Wir haben von 14 bis neun Quadratmeter alles in der Luft gehabt. Selbst Sechser oder Siebener kann man in der Toskana manchmal brauchen. Ein Twintip zum Cruisen und Springen sowie ein Waveboard, speziell bei Südwind, komplettieren das Quiver im Kofferraum. Den dünnen Neo braucht man auch im Hochsommer. Im Winter wird das Wasser frisch, also Neoprenschuhe und eventuell Handschuhe nicht vergessen.

Tipp:
Von Livorno ist es nicht weit mit der Fähre nach Sardinien oder Korsika. Erst einige Tage durch die Toskana kiten, um danach ein oder zwei Wochen auf einer der Inseln zu verbringen – eine tolle Kombination für den ­Sommerurlaub!

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